Die Bücher des Pannerherrn: Fundstücke aus einem Landbuch des 18. Jahrhunderts
Eine Beschreibung der Lauiüberschwemmung von 1629, ein Inventar der Helferei Lungern, eine Liste gefallener Soldaten: Ein Landbuch aus dem 18. Jahrhundert, das dem Staatsarchiv kürzlich geschenkt wurde, erlaubt unerwartete Einblicke in die Vergangenheit Obwaldens – und in die Überlieferungsgeschichte der bekanntesten Quelle im Staatsarchiv.
Landbücher sind bedeutende Quellen für die Rechtsgeschichte Obwaldens: Seit dem 16. Jahrhundert wurden in ihnen die geltenden Landrechte schriftlich festgehalten. Weil sich das Recht über die Zeit wandelte und die Landbücher von verschiedenen Amtsträgern bei ihren Amtsgeschäften benutzt wurden, sind sie in zahlreichen Versionen und Abschriften überliefert. Allein für den Zeitraum zwischen 1500-1800 besitzt das Staatsarchiv über ein Dutzend Landbücher (StAOW 02.LB.0001-0018). Darunter befinden sich viele Abschriften, die Ratsherren oder andere Amtsträger als persönliche Kopien anlegen liessen und die nach deren Tod zunächst in Familienbesitz blieben.
Gerade solche Landbücher aus Privatbesitz sind von besonderem Wert, weil sie neben den Rechtstexten oft ein Sammelsurium an weiteren Schriftstücken enthalten, die für die Amtsträger, die sie anlegten, wichtig waren – zum Beispiel Auszüge aus Chroniken, Listen von Amtsträgern oder Abschriften von Urkunden. Vor Kurzem sind nun gleich drei bisher unbekannte Abschriften von Landbüchern aus Privatbesitz ins Staatsarchiv gelangt – ein Glücksfall für das Archiv, denn die Bände enthalten neben den üblichen Abschriften und Ergänzungen noch sehr viel mehr.
Von Käsegestellen, Kirchenschwemmungen und Kriegsverlusten
Einer der Bände sticht besonders heraus: Das "Manual oder Articel-Buch", wie der ursprüngliche Verfasser das Buch nannte, wurde im 18. Jahrhundert angefangen und über viele Jahrzehnte von verschiedenen Schreibern ergänzt und korrigiert. Rund 600 Seiten umfasst der Band – und davon nimmt der Auszug aus dem Landbuch von 1755 gerade mal 120 Seiten ein. Der grössere Teil des Bandes besteht aus einer bunten Mischung an Quellen, deren Auswahl auf den ersten Blick etwas zufällig erscheint. Neben Chronikauszügen und Urkundenabschriften findet man darin zum Beispiel ein Hausratsinventar der Helferei Lungern, in dem vom Käsegestell im Keller bis zum Holzkruzifix in der Laube alle Möbel und Gegenstände erfasst sind, die zur Pfarrhelferwohnung gehörten. Oder man stolpert über eine detaillierte Beschreibung der Giswiler Alpen und Bäche, die in einem Bericht über die verheerende Lauiüberschwemmung mündet, der 1629 die Kirche zum Opfer fiel. Auch eine Liste gefallener Obwaldner Soldaten vom Morgartenkrieg (1315) bis zum Villmergerkrieg (1712) befindet sich in dem Band. Darin begegnet man etwa Matis Ammann, der 1531 im zweiten Kappelerkrieg tödlich verwundet wurde, oder Uli Obrist, der im Lager erkrankte und nach seiner Rückkehr starb, oder dem unglücklichen Hans Franz Halter, der es im Zweiten Villmergerkrieg zwar bis nach Hause schaffte, dann aber beim "durchzug der Berner gefangen und erstochen" wurde. Auch wenn der Schreiber andeutet, sich auf ältere Quellen zu stützen, sind diese Listen gerade im Falle der weiter zurückliegenden Schlachten mit einer gesunden Skepsis zu betrachten. Aufschlussreich sind sie aber auch dann, wenn sie (teilweise) erfunden sind: Sie zeigen nämlich, welche Informationen den Amtsträgern wichtig waren. Die Besitzer des "Manual oder Articel-Buches" sammelten offensichtlich nicht nur Quellen wie das Hausratsinventar der Helferei Lungern, das einen unmittelbaren praktischen Nutzen erfüllte und beispielsweise bei einer Amtsübergabe zu Rate gezogen werden konnte. Viele der Quellen im "Manual oder Articel-Buch" zeigen, dass es ihnen auch ein Anliegen war, die Erinnerung an bedeutende historische Ereignisse zu bewahren.
Die Bücher des Pannerherrn
Dass die Wahrung der Erinnerung gar zu den Kernaufgaben mancher Amtsträger gehörte, zeigt eine weitere Liste im "Manual oder Articel-Buch" – nämlich ein Verzeichnis der Bücher, die sich in der Obhut des Pannerherrn befanden. Der Pannerherr war einer der höchsten Amtsträger Obwaldens und amtete oftmals gleichzeitig als Landammann. Er war unter anderem zuständig für die sichere Verwahrung der Panner (Fahnen), die im Kriegsfall aufs Schlachtfeld mitgenommen wurden und hohen symbolischen Wert besassen. Laut dem Verzeichnis im "Manual oder Articel-Buch" wurden dem Pannerherrn aber nicht nur die Panner, sondern auch eine Reihe von Büchern anvertraut, denen man offensichtlich ebenfalls einen besonderen Wert zuschrieb. Darunter befanden sich die Reformationschronik von Johannes Salat (StAOW 02.CHR.0001), ein Memorial über den Brünigzug von demselben Autor (StAOW 02.CHR.0002), das Bruderklausenspiel von 1601 (StAOW 02.LIT.0001) sowie das "buoch des seel. Bruder Clausen" (wahrscheinlich StAOW 02.BRKL.0001). Und schliesslich bewahrte der Pannerherr auch zwei "weyse bücher" bei sich auf – ein "uraltes" und eine neuere Abschrift. Bei ersterem handelt es sich um das berühmte "Weisse Buch von Sarnen" (StAOW 02.CHR.003), das um 1470 entstand und neben Abschriften mittelalterlicher Urkunden auf den letzten Seiten die älteste bekannte Version der Telllegende enthält.
Der Eintrag im "Manual oder Articel-Buch" beschränkt sich aber nicht auf eine Aufzählung dieser Bücher, sondern enthält auch wertvolle Hinweise auf die Funktion des "Weissen Buch" vor seiner Wiederentdeckung durch die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. Wie der Schreiber ausführlich erläutert, hatte man das "Weisse Buch" eine Zeitlang an Nidwalden ausgeliehen, damit dort eine Abschrift angefertigt werden konnte. Nun wurde befürchtet, dass die Nidwaldner beim Abschreiben der Urkunden "etwas verendert" hätten. Sollte Nidwalden zukünftig Ansprüche erheben, die "unseren nachkommenden […] zu span [Streit] oder nachtheil gereichen", sollten die "gefahrlichen enderungen" mithilfe des "alten rechten originals" aufgedeckt werden. Das "Weisse Buch" hatte offensichtlich noch im 18. Jahrhundert eine ganz praktische Funktion: Es diente in Streitfällen als gültiges Original, mit dem fehlerhafte Kopien abgeglichen werden konnten.
Der Pannerherr bewahrte also eine Sammlung alter Schriften bei sich auf, die sowohl rechtlich als auch historisch bedeutend waren - und wachte damit quasi über das historische Gedächtnis Obwaldens. Dass es nicht ungefährlich war, diese Verantwortung in die Hände einer einzelnen Person zu legen, zeigt der tragische Fall des Pannerherrn Johann von Deschwanden. Laut Ratsprotokoll (StAOW RRP.0019, S. 652) wurde von Deschwanden um 1694 "etwas verrückt" und verlor ausgerechnet sein Gedächtnis, weigerte sich aber, die ihm anvertrauten Objekte und den Schatzschlüssel herauszugeben. Als er zum wiederholten Male davonlief, verfügte der Rat, dass die Panner, Schlüssel und "andere zugehörige Sachen" – wahrscheinlich die genannten Bücher – aus seinem Haus geholt und in der Kirche in Kerns verwahrt werden sollten, bis ein neuer Pannerherr bestimmt sei. Von Deschwanden aber sollte bei seiner Rückkehr von sechs Männern an Ketten gebunden und daran gehindert werden, sich selbst oder andere zu verletzen (StAOW RRP.0020, S. 7). Ob vielleicht diese Ereignisse dazu Anlass gaben, die Bücher in der Obhut des Pannerherrn in einer Liste zu verzeichnen?
Das Erbe des Pannerherrn
Wie das "Weisse Buch von Sarnen" wurde auch das "Manual oder Articel-Buch" ursprünglich als Sammlung von Rechtstexten angelegt, die dem jeweiligen Besitzer bei der Verrichtung seiner Amtsgeschäfte diente, und später um weitere Quellen ergänzt, von denen hier nur eine kleine Auswahl vorgestellt werden konnte. Es sind diese Ergänzungen, die heute den besonderen Wert dieser Bücher ausmachen, indem sie uns vielfältige Einblicke in die Geschichte Obwaldens und in die Verbindungen zwischen Verwaltung, Politik und Erinnerungskultur erlauben.
Gleichzeitig wirft das "Manual oder Articel-Buch" ein wenig Licht auf die bisher wenig bekannte Überlieferungsgeschichte der berühmtesten Quelle im Staatsarchiv Obwalden – und auf die Geschichte des Staatsarchivs selbst. Dieses hat nämlich den Pannerherrn in seiner Funktion als Bewahrer der lokalen Erinnerung abgelöst: Die Bücher, die man in der Frühen Neuzeit dem Pannerherrn anvertraute, sind heute allesamt zentraler Bestandteil des historischen Archivs.
Ob wohl noch weitere solche Schätze den Weg ins Archiv finden?
Quellen:
StAOW P.0072.03: "Manual oder Articel-Buch loblich. Canton Under Waldten ob dem Waldt" (ca. 1755-1874).
StAOW 02.LB.0001-0018: Obwaldner Landbücher, ca. 1524-1800.
StAOW 02.CHR.003: Weisses Buch von Sarnen (ca. 1470), online: https://e-codices.unifr.ch/de/list/one/staow/A02CHR0003.
Literatur zum Thema:
Christ, Hermann und Schnell, Johannes: Das Landrecht von Obwalden in seiner ältesten Gestalt und in seiner Entwicklung. In: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 8 (1859).
Dubler, Anne-Marie: Landrechte. In: Historisches Lexikon der Schweiz, online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/047691/2008-09-09/.
von Flüe, Niklaus: Obwalden im 18. Jahrhundert. Sarnen 2009 (Obwaldner Geschichtsblätter 26).
Schmid, Regula: Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter. Zürich 2009.
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