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Alles in Ordnung? Zustand und Zugänglichkeit des obrigkeitlichen Archivs im frühneuzeitlichen Sarnen

Archive waren wichtige Machtmittel der Orte der alten Eidgenossenschaft. Je nach Ort waren deren Zustand und Nutzung aber stark unterschiedlich. War es im überschaubaren Obwalden einfach Ordnung zu halten oder scheiterte die Obrigkeit an ihren Ansprüchen? Quellen aus dem Staatsarchiv zeugen von Bemühungen und Problemen.

Ein Gastbeitrag von Jan Haugner, Universität Bern

Für die Erhaltung ihrer Macht waren Archive für die Orte der alten Eidgenossenschaft kaum zu ersetzen. Die darin enthaltenen Dokumente sicherten Ansprüche auf Gebiete, Rechte und Abgaben gegenüber Untertanen und Auswärtigen. Ein Forschungsprojekt an der Universität Bern untersucht deshalb, wie verschiedene eidgenössische Orte ihre Archive ordneten und den Zugang zu ihnen regulierten. Im Zentrum steht dabei auch das frühneuzeitliche Archiv in Sarnen - der Vorläufer des heutigen Staatsarchivs.

Über das Obwaldner Archiv bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts geben die Dokumente des Staatsarchivs kaum Auskunft. Das überrascht insofern wenig, als vor allem in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit Archive mehr Aufmerksamkeit erhielten und stärker wuchsen. Im benachbarten Luzern etwa erweiterte die Obrigkeit bis 1698 ihr Archiv massiv und versah die neuen Räumlichkeiten mit kunstvoll geschnitztem Mobiliar und repräsentativen Deckengemälden. Die Republik Zürich beschäftigte in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts dutzende Kanzlisten für ihre Kanzleien und das angegliederte Archiv. In Obwalden hingegen war bis 1709 nur ein Landschreiber mit der Führung des Archivs betraut.

Arbeit für mehr Personal, auf das vermutlich aus Budgetgründen verzichtet wurde, hätte es durchaus gegeben. Schon 1675 bemerkte der Rat die Notwendigkeit, über die Schriften «in dem Archiv des turms  […] eine genzliche riformation Zueerheben» (02.RP.0018, S. 336), sie also komplett neu zu ordnen. Mit dem Projekt, für das der Rat auch gleich mehrere konkrete Schritte beschloss, wurden die Alt-Landammänner, der Statthalter und Landschreiber betraut. Sie sollten unter anderem für die Einrichtung einer Registratur sorgen, in der die Bestände inventarisiert werden sollten. Und um Lauferei zwischen Hexenturm und Rathaus zu vermeiden, sollten die wichtigsten Archivalien in Letzterem über Abschriften oder einen sicheren Behälter zur Lagerung nutzbar gemacht werden.

Sarnen in Stumpfs Chronik Ausschnitt
Abb. 1: Der Archivturm (rechts) und das alte Rathaus an der Sarneraa (rechts neben der Brücke). Ausschnitt aus der ältesten Darstellung Sarnens (Johannes Stumpfs Schweizer Chronik, Zürich 1548).

Nachhaltig erfolgreich scheint das Projekt aber nicht gewesen zu sein. 41 Jahre später, 1726, setzte sich der grosse Rat Obwaldens erneut mit der «Cantzley im Thurm» (02.RP.0022, S. 333) auseinander. Diesmal war die Wortwahl drastischer. Eine Neuorganisation der Bestände sei «erspriesslich ja Nothwendig auff das nit einige alte schriften in völlige Vergessenheit od gäntzliches Verderben gerathen, man auch unsere habende authentica eigentlich wüssen möge.“ War zuvor die Instandsetzung des Archivs noch ohne Angabe eines Grundes als notwendig bezeichnet worden, so wurden nun auch konkrete Probleme angesprochen. Nicht nur könne man aktuell gar nicht wissen, welche Originaldokumente eigentlich dort lagerten, sondern diese seien durch den zunehmenden Verfall auch in Gefahr dem Zugriff der Obrigkeit zu entgleiten.

Es vergingen weitere 61 Jahre, bis der grosse Rat beschloss, dass an das Rathaus in Sarnen Räume angebaut werden sollten, „um die in dem Schazthurm in unordnung ligenden Obrigkeit[lichen] Schriften, nebst anderen, zu bequemlicheren Gebrauch in selbe zu verlegen“. (02.R.0052) Aus moderner Perspektive war die Unordnung im Turm im Übrigen noch das geringste Problem. Absurderweise lagerte die Regierung Obwaldens im Turm nämlich nicht nur ihren Schrift- und Staatsschatz, sondern gleichzeitig auch das Schiesspulver für ihre Armee. Obwohl es in der Frühen Neuzeit, wie z. B. 1701 in Luzern, immer wieder zu Explosionen von Pulvertürmen infolge von Blitzeinschlägen kam, hielt man daran in Sarnen bis ins 19. Jahrhundert fest.

Unter den verschiedenen Anläufen, die die Obrigkeit im Laufe der Frühen Neuzeit unternahm, ihr Archiv zu ordnen, war derjenige von 1788/9 sicherlich der ernsthafteste. Das explizite Errichten von Gebäuden oder Anbauten, um diese als Archiv zu nutzen, war für die Frühe Neuzeit alles andere als üblich. Vielmehr baute man i. d. R. bereits bestehende Räume um, so wie es z. B. 1985/86 mit dem Hexenturm geschah, der bereits vor dem Umbau Teile des Staatsarchivs beherbergt hatte und das bis heute tut. Zwar konnten der Bau der Räume und die Ordnung des Archivs 1788/89 erfolgreich abgeschlossen werden, die Obrigkeit verpasste es aber, für eine zukünftige Pflege und Instandhaltung der Dokumentensammlung zu sorgen.

Ansicht Rathaus vor Renovation 1977
Abb. 2: Südostfront des Rathauses vor Renovation 1977/78 mit Archivanbau von 1787 (links), Treppenhaus (Mitte) und Anbau von 1949 (rechts). Fotograf: O. Pfeifer, SWB, Luzern (D.03.0253.04.15).

Diese Vernachlässigung sowie die Wirren der Helvetik, deren Regierungen durchaus ein Interesse an Archivalien zeigten, sorgten dafür, dass die neue Ordnung nicht lange hielt. Bereits 1819 musste ein neues Register der Bestände angefertigt werden, das seine Notwendigkeit damit begründete, dass „die Canzley seit 1789 nit mehr ware revidiert und reguliert worden.“ (C.03.1.645)

Allen mehr oder weniger ernsthaften Bemühungen zum Trotz, kann man festhalten, dass das frühneuzeitliche Obwalden nie längerfristig über ein in seiner Gänze gut organisiertes Archiv verfügte. Vielleicht war auch gerade das der Grund, warum die Obrigkeit den Zugang zu ihren Archivalien streng regulierte. 1726 hatte man eine Neuorganisation der Archivalien ja vor allem deshalb als notwendig erachtet, „auff das nit einige alte schriften in völlige Vergessenheit od gäntzliches Verderben gerathen, man auch unsere habende authentica eigentlich wüssen möge.“ Die Mitglieder des grossen Rates waren sich also offenbar selbst nicht ganz im Klaren darüber, was sie eigentlich alles verwalteten, und nahmen das auch als Problem wahr. Vor diesem Hintergrund würde es nicht überraschen, wenn der Rat deshalb die Befürchtung hatte, dass man in seinem Archiv auch Dokumente finden konnte, die für ihn nicht vorteilhaft waren und von denen man nichts wusste.

Von der engen Kontrolle des Archivzuganges zeugt bereits die Art der Quellen, in denen man Spuren des frühneuzeitlichen Archives finden kann. Diese sind nur selten in Dokumenten des Landschreibers, in dessen Zuständigkeit die Kanzlei und das Archiv eigentlich fielen, sondern zumeist in den Ratsprotokollen zu finden. Mit anderen Worten: Fast keine Entscheidung über Zugang zu den Archivalien, von der wir wissen, wurde unabhängig vom Rat getroffen; vielmehr musste der Zugang in der Regel von diesem abgesegnet werden.

Hinweise auf diese enge Kontrolle finden sich auch in den Entscheidungen zu den bereits beleuchteten Initiativen zur Archivorganisation 1675, 1726 und 1788. 1675 wurden zur Durchführung des Projekts neben dem Landschreiber auch der Statthalter und zwei alt-Landammänner abgeordnet. Alle drei waren Teil der sogenannten Ringherren, der höchsten Amtsträger Obwaldens, die gewissermassen den innersten Kreis des grossen Rates bildeten. Dem Landschreiber, der selbst nicht Teil des Rates war, wurden in allen Fällen Ratsherren an die Seite gestellt. Durch die Abordnung mehrerer seiner Mitglieder konnte der Rat nicht nur sicherstellen, dass die Handlungen des Landschreibers beobachtet wurden, sondern auch die seiner eigenen Mitglieder. 

Detail Archivtüre
Abb. 3: Rathaus Sarnen, Detail der Archivtüre vor der Renovation 1977/78. Fotograf: O. Pfeifer, SWB, Luzern (D.03.0253.04.65).

Vorrangig war der Rat natürlich um eine Abschottung der Archivalien gegenüber Aussenstehenden bemüht. Beim erneuten Anlauf auf eine umfassende Archivorganisation 1726 wurde dem Landschreiber mit dem Bauherren wieder ein Ringherr an die Seite gestellt. Wohl im Wissen, dass zwei Männer das Projekt nicht alleine bewältigen konnten, wurde ihnen gewährt sich Gehilfen zu nehmen, mit dem Zusatz: «findt man für anständig, das solche von dem Rath seyen.» (02.RP.0022, S. 333) Beim Beschluss zum Rathausanbau 1786 liess man den Landschreiber zumindest anfangs sogar ganz aussen vor, denn es sollten der Landammann und der Bauherr sein, die «ein dienlichen plaz ausfindig machen» sollten. (02.RP.0029, S. 174)

Überhaupt scheint der Landschreiber von seinen Vorgesetzten mitunter als notwendiges Übel wahrgenommen worden zu sein. Besonders deutlich wurde das um 1710. Neben der Führung von Archiv und Kanzlei gehörte auch das Erstellen der Ratsprotokolle zu den zentralen Aufgaben des Landschreibers. Dieser scheint er in diesem Zeitraum aber nicht nachgekommen zu sein, denn der Rat versuchte ihn mit diversen Mitteln zur besseren Umsetzung der Aufgabe zu bewegen. 1711 hiess es gar: «Wegen Landtschreibers ist erkhendt worden das Er solle bis miterfasten [d.h. bis zur Mitte der Fastenzeit] das protocoll in stand setzen, sonsten solle er den rath nit mer frequentieren.» (02.RP.0021, S. 206) Sofern er seine Aufgabe nicht erledigte, sollte der Landschreiber also auch nicht den in ihrem Inhalt geheimen Ratssitzungen bewohnen. Eine nachhaltige Verbesserung konnte aber weder diese noch eine der anderen Massnahmen erreichen. 1764 bemerkte der dann amtierende Landschreiber, dass sein Vorgänger seit vielen Jahren die Ratsbeschlüsse nicht mehr in ein sauberes Protokoll gesetzt habe und diese nur ungebunden vorliegen würden. (02.RP.0026, S. 247)

Der Landschreiber war aber keineswegs die einzige Person im Umfeld des Archivs, der die Obrigkeit genau auf die Finger schaute. Denn auch die Zugehörigkeit zum Rat und den Ringherren führte nicht dazu, dass man das Archiv uneingeschränkt nutzen konnte. Insgesamt lässt sich zum «Wie» der Nutzung durch die Ratsherren zwar wenig sagen, aber die Beschränkungen, denen selbst die höchsten Amtsträger unterworfen waren, geben uns zumindest Aufschluss über die Fragen nach dem «Wo» und «Was». Das Einsehen von Archivalien oder das Anfertigen von Kopien im Archiv dürfte wie in anderen Orten wohl mit recht niedrigen Hürden verbunden gewesen sein. Wie Carla Roth in einem früheren Archivfenster gezeigt hat, verfügten einige Ratsherren über sogenannte Landbücher, die nicht nur Gesetzestexte, sondern mitunter auch Abschriften von Archivalien enthielten. Zu dieser alltäglichen Archivnutzung fehlt es an Quellen, die uns mehr darüber verraten könnten. Auch in anderen Orten wurden Akteneinsichten und das eigene Anfertigen von Kopien im Archiv in der Regel nicht vermerkt. In entsprechenden Verzeichnissen wurden normalerweise nur die Ausleihen von Dokumenten zur Nutzung ausserhalb des Archivs erfasst.

Für Obwalden hat sich, sofern es überhaupt jemals eines gab, kein Ausleihverzeichnis erhalten. Nur in den Ratsprotokollen finden sich vereinzelte Hinweise auf Ausleihen, wobei diese zumeist im Abstand von Jahrzehnten auftauchen und wohl kaum die gesamte Menge der Fälle abbilden. Nichtsdestotrotz ist ein Blick auf diese Einträge sehr aufschlussreich. Dass es sich dabei um Ratsbeschlüsse und nicht um Quellen des Landschreibers handelt, zeigt einmal mehr die limitierten Kompetenzen des Landschreibers. Aber nicht nur gegen aussen machten die Ratsherren Einschränkungen. Als 1754 der Bauherr Archivalien zum Kopieren ausleihen wollte, wurde ihm das weitgehend erlaubt, die Ausleihe von Protokollen wurde ihm aber nicht gestattet. Auch der Landammann Nikodem von Flüe, der höchste Amtsträger des Staates, musste sich 1773 an den Rat wenden, als er ein Ratsprotokoll von 1722 ausleihen wollte (02.RP.0028, S. 189). In diesem Fall wurde die Ausleihe zwar genehmigt, der Rat mahnte ihn aber dazu, mit dem Protokoll «treülich» umzugehen und darin nichts zu verändern.

Portrait Landammann Nikodem von Flüe
Abb. 4: Rathaus, Porträt von Landammann Nikodem von Flüe (1734-1823) (D.03.0253.04.77).

Die Sorge der Obrigkeit um das Archiv des Staates steht ganz im Gegensatz zum Interesse der Landsgemeinde daran. In den Quellen finden sich keine Hinweise auf eine Auseinandersetzung zwischen Obrigkeit und Volk in Bezug auf das Archiv. Auch bürgerliche Gesuche um Zugang tauchen kaum auf. Das überrascht insofern nicht, als in der Frühen Neuzeit das Hüten von Geheimnissen durch den Staat weitgehend als akzeptiert und gottgewollt gesehen wurde. Heute hingegen dient das Staatsarchiv nicht mehr primär der Erhaltung von Macht, sondern stellt vielmehr sicher, dass staatliches Handeln langfristig nachvollziehbar bleibt und die Geschichte Obwaldens erforscht werden kann. Aus diesem Grund steht das Staatsarchiv allen Menschen offen, die sich für seine Bestände interessieren.

Jan Haugner, Universität Bern

 

Quellen:

 

Literatur zum Thema:

  • Roth, Carla: Die Bücher des Pannerherren: Fundstücke aus einem Landbuch des 18. Jahrhundert. Online: https://www.ow.ch/themenalle/thema/5633.
  • Studach, Willi: Der Archivturm zu Sarnen. Bemerkungen zu seiner Geschichte. In: Obwaldner Geschichtsblätter 17 (1988), S. 126-150.
  • von Flüe, Niklaus: Obwalden im 18. Jahrhundert. In: Obwaldner Geschichtsblätter 26 (2009).
  • Wirz, August: Das Rathaus des Standes Obwalden. Sarnen 1979.

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