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Von Liebe und anderen "Verbrechen": Drei Geschichten aus den Obwaldner Strafuntersuchungsakten

Was haben ein ehemaliger Pfarrer, eine rebellische Lungererin und ein Aargauer Schuster gemeinsam? Sie alle mussten sich im 19. Jahrhundert vor dem Regierungsrat verantworten. Im zweiten Archivfenster zu den neu erschlossenen Strafuntersuchungsakten erzählen wir ihre Geschichten.

Über 6300 Strafuntersuchungsakten aus den Jahren 1803 bis 1867 wurden in den vergangenen Monaten im Staatsarchiv Obwalden erschlossen. Im letzten Archivfenster haben wir darüber berichtet, welche Möglichkeiten dieser aussergewöhnliche Bestand für die Erforschung der Obwaldner Strafjustiz bietet. Die Strafuntersuchungsakten verraten uns aber nicht nur vieles über das Obwaldner Justizwesen, sondern bieten uns auch einzigartige Einblicke in das Leben der Menschen, die im 19. Jahrhundert in Obwalden wohnten und arbeiteten, liebten und stritten. Einige von ihnen stellen wir Ihnen in diesem Archivfenster vor.

 

Ein Schuster auf Mission in Obwalden

Im Mai 1850 wurde der Aargauer Schuster Karl Villmer verhört, weil er auf der Durchreise durch Obwalden schon zum zweiten Mal innerhalb einer Woche in verschiedenen Wirtshäusern Druckschriften verbreitet hatte (SUA.02.01.2805). Die Schriften trugen auf den ersten Blick unverdächtige Titel wie "Häusliche Frömmigkeit bei armen Leuten", "Wo liegt der Fehler?" und "Die Messe". Aber bei genauerer Lektüre zeigte sich schnell, dass hinter den Schriften eine klare Botschaft stand.

Besonders deutlich wird dies in der Druckschrift "Die russische Kindsmagd". Darin berichtet ein (wohl fiktiver) Missionar in Russland, wie er und seine Frau ihrer russischen Magd Frena das Lesen beigebracht und sie dadurch auf den "Weg des Heils" geführt hätten. Nachdem Frena durch die Lektüre der Heiligen Schrift bekehrt worden war und ihre "abergläubischen" Rituale abgelegt hatte, habe sie ihre neuen Erkenntnisse an andere Arbeiterinnen und Dienstboten in ihrem Umfeld weitergegeben. Dank Frenas Missionstätigkeit, so heisst es in der Druckschrift weiter, "wurden Laster aufgegeben; Sünder gebessert; die heilige Schrift in Umlauf gebracht in Dörfern, welche dieselbe nie vorher gesehen hatten" (S. 6).

Genau dasselbe sollten wohl auch die Druckschriften erreichen, die Villmer auf Weisung des Herausgebers – eines Dr. Mariotts aus Basel, der praktischerweise auch gleich das Neue Testament verkaufte – in Obwalden in Umlauf brachte: Die Schriften zielten darauf ab, einem einfachen katholischen Publikum protestantische Glaubenssätze zu vermitteln und die Leserschaft zur eigenen Lektüre des Neuen Testamentes anzuregen. Dabei wurde klugerweise an keiner Stelle explizit für den Protestantismus geworben; vielmehr beriefen sich die Druckschriften sogar auf (vermeintliche) katholische Autoritäten.

Der Regierungsrat liess sich davon freilich nicht täuschen: Er erkannte in den Druckschriften sofort "schlechte akatholische Schriften u. Karikaturen gegen die katholische Religion", belegte Villmer mit einer Geldstrafe und Verbannung und wies die Gemeinden an, alle von ihm verbreiteten Druckschriften einzuziehen (RRP.0012, S. 9). Ironischerweise ist es wohl nur diesem Umstand zu verdanken, dass die Druckschriften überhaupt überliefert wurden: Einige der konfiszierten Exemplare wurden nämlich den Strafuntersuchungsakten beigelegt.

Protestantische Pamphlete
Abb. 1: Konfiszierte protestantische Druckschriften (SUA.02.01.2805)

Der Fall Villmer steht stellvertretend für die zahlreichen Zufallsüberlieferungen in den Obwaldner Strafuntersuchungsakten, die uns kleine Einblicke in das Leben und den Alltag der Menschen im Kanton erlauben: Neben Druckschriften finden wir darin unter anderem auch Reisepässe, Dienstbüchlein, Inventare, Schuldscheine, Spielkarten, Lotterietickets, Musterbücher, magische Formeln – und zahlreiche Liebesbriefe. Von einem dieser Liebesbriefe handelt die nächste Geschichte.

 

Ein "Liedchen" für das "Liebchen"

Anna Maria Furrer aus Lungern führte ein bewegtes Leben. Mit 19 Jahren taucht sie 1853 zum ersten Mal in den Strafuntersuchungsakten auf (SUA.02.01.1118): Sie war nach längerer Abwesenheit nach Obwalden zurückgekehrt, weil sie einen Heimatschein benötigte, um sich zu verheiraten. Statt eines Heimatscheins erhielt sie eine Anzeige wegen "unerlaubten Umgangs" mit ihrem Verlobten und wurde in ihre Heimatgemeinde eingegrenzt. Trotzdem verliess Furrer Obwalden kurz darauf, weil sie, wie sie in einem späteren Verhör angab, von ihrem Vormund geschlagen wurde. In den folgenden Jahren zog sie, oft in Begleitung eines Mannes und immer ohne offizielle Ausweisschriften, durch die angrenzenden Kantone. 1856 gebar sie ein erstes uneheliches Kind (SUA.02.01.1119), 1859 ein zweites (SUA.02.01.1123). Immer wieder versuchte Furrer, an einen Heimatschein zu kommen, um legal arbeiten und sich verheiraten zu können; immer wieder wurde sie verhaftet, verhört und dabei manchmal auch gefoltert. Als sie 1860 wieder einmal in der Obwaldner Strafanstalt in Haft gesetzt wurde, befreite sie sich mit der Hilfe einer Mitgefangenen, stahl einige Kleider, seilte sich an zwei aneinandergebundenen Seilen aus einem Fenster ab und floh über Stans und Altdorf ins Glarner Linthal, wo sie unter falschem Namen als Fabrikarbeiterin anheuerte (SUA.02.01.1124).

Hier hätte sich ihre Spur verlieren können – wenn Furrer in der Fabrik nicht die Bekanntschaft eines gewissen Christian Zweifels gemacht und sich ein weiteres Mal verlobt hätte. Wie aber sollte man den Glarner Behörden erklären, dass Furrer bei der Verehelichung keine Ausweisschriften vorweisen konnte? Furrer bediente sich einer klugen Lüge: "Man habe sie in ein Kloster thun wollen, sie sei aber dessen gar nicht zufrieden und habe sich deshalb ohne Schriften fortbegeben", gab sie bei den Glarner Behörden an – eine Geschichte, mit der sie wohl zumindest im reformierten Kantonsteil mit gewissen Sympathien rechnen konnte. Als die Glarner Behörden aber Zweifel an Furrers Behauptungen äusserten und zudem eine Fahndungsmeldung aus Obwalden eintraf, die auf Furrer passte, setzte sich diese nach Altdorf ab, wo sie kurz darauf verhaftet wurde. In ihrem Besitz befanden sich neben gefälschten Heimats- und Taufscheinen und einem schriftlichen Eheversprechen zwischen ihr und Zweifel auch ein Liebesgedicht, mit dem sich ihr Verlobter am 27. Januar 1861 von ihr verabschiedet hatte (SUA.02.01.1124):

"Schönster Schatz jetzt muß ich reißen,

Und muß sagen lebe wohl,

Eine Zeit lang muß ich Meiden,

Auf was Es mich betrüben soll,

Und mit ganz betrübtem Herzen,

Muß ich sagen dieses Wort,

Und mit ganz wem soll Ich den Scherzen,

Schönster Schatz jetzt muß ich fort,

Jene Leute die mich hassen,

sagen dies bald eins Mir,

Sieh sagen Ich soll dich jetzt Lassen,

Und mein Herz nicht schenken dir,

Aber neun Ich habs Geschworen,

dir auf ewig treu zu sein

[…]

Sollt ich aber unterdessen,

Auf dem Todbett schlafen Ein,

So kannst auf meinem Grabe pflanzen,

Eine Blume Vergißmeinnicht-Mein."

 

Liebesgedicht für Anna Maria Furrer
Abb. 2: Ein "Liedchen" für das "Liebchen": Liebesgedicht für Anna Maria Furrer (SUA.02.01.1124).

Tatsächlich nahm die Liebesgeschichte von Zweifel und Furrer kein glückliches Ende. Nach ihrer Auslieferung nach Obwalden wurde Furrer zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt (RRP.0014, S. 702-703) – und nur vier Jahre später wurde sie erneut verhört, weil ihr vorgeworfen wurde, wieder unehelich schwanger zu sein.

So aussergewöhnlich Furrers Geschichte auch klingen mag, reiht sie sich doch ein in die grosse Zahl der Obwaldnerinnen, die im 19. Jh. wegen unehelicher Beziehungen oder Schwangerschaften in die Mühlen der Justiz gerieten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in der Schweiz zwischen 4-7 Prozent der Kinder unehelich geboren, nicht zuletzt, weil finanzielle und rechtliche Hürden Eheschliessungen erschwerten. Die harte Bestrafung und das soziale Stigma, die mit einer Verurteilung wegen "unerlaubten Umgangs" oder einer unehelichen Schwangerschaft einhergingen, führten oft dazu, dass sich bereits verurteilte Frauen erneut strafbar machten – zum Beispiel, weil sie sich wie Anna Maria Furrer heimlich aus der Gemeinde entfernten, um anderswo eine Verdienstmöglichkeit zu finden. Dank den Strafuntersuchungsakten können die Schicksale dieser Frauen nun erstmals untersucht und über mehrere Jahre oder manchmal gar Jahrzehnte hinweg verfolgt werden.

 

Ein Pfarrer und sein Geliebter

Wie Anna Maria Furrer hinterliess auch der ehemalige Pfarrer Alois Imfeld über mehrere Jahre Spuren in den Strafuntersuchungsakten: Im Januar 1864 wurde er zusammen mit dem Sachsler Anton Rohrer verhaftet, weil sie sich trotz eines Kontaktverbotes wiederholt getroffen hatten. Angezeigt wurden die beiden von Rohrers Schwester Johanna, die zugab, heimlich Nachrichten zwischen Rohrer und Imfeld vermittelt zu haben. Die beiden hätten sich oft in den Abendstunden an abgelegenen Orten getroffen und manchmal sei ihr Bruder danach mit schmutziger Kleidung heimgekehrt, berichtete Johanna Rohrer.

In den Verhören der beiden Beschuldigten und verschiedenen Zeugenaussagen, die im Laufe der Strafuntersuchung erhoben wurden, lassen sich die Grundzüge einer aussergewöhnlichen Liebesgeschichte erkennen (SUA.02.01.1595). Die beiden Männer hatten sich in den 1850er-Jahren im Obwaldner Söldnerregiment in Neapel kennen gelernt, wo Rohrer als Soldat und Imfeld als Feldprediger tätig gewesen war. Fünf Jahre lang arbeitete Rohrer als Imfelds Diener – und die enge Beziehung, die im Laufe dieser Zeit zwischen den beiden entstand, erregte einiges Aufsehen. Laut Aussage des Unteroffiziers Johann Bernhard Vogel seien, "wie es öfters zu geschehen pflege, diese und jene Gerüchte gegangen", und das Ansehen des anfänglich beliebten Pfarrers habe wegen seiner "gar zu grossen Anhänglichkeit zu seinem Bedienten Anton Rohrer" sehr gelitten. Ein Dolmetscher namens Balumbo, der einmal bei Imfeld übernachtete, erzählte herum, dass sich Rohrer und Imfeld ein Bett geteilt hätten, und ein Lieutenant Anderhalden bezichtigte die beiden Männer offen der Sodomie – und dies obwohl es laut Rohrer ausgerechnet Anderhalden und Balumbo gewesen waren, die ihm Avancen gemacht hatten. Irgendwann erreichten die Gerüchte auch den bischöflichen Kommissar in Obwalden, der die beiden Männer, die Neapel inzwischen verlassen hatten, beim Regierungsrat meldete.

Als Rohrer und Imfeld im Oktober 1863 nach längerem "Herumvagiren" nach Obwalden zurückkehrten, wurde Rohrer sofort verhaftet und Imfeld gegen seinen Willen im Kapuzinerkloster untergebracht. Während Rohrer ein sexuelles Verhältnis mit Imfeld in verschiedenen Verhören abstritt, drohte letzterer im Kloster mit Selbstmord und damit, den Priesterstand zu verlassen. Schliesslich wurde Rohrer unter der Bedingung freigelassen, dass er seine Heimatgemeinde Sachseln nicht verlasse und Imfeld nicht wiedersehen solle.

Daran hielten sich die beiden Männer allerdings nicht. Sie trafen sich nicht nur regelmässig, sondern schmiedeten laut Zeugenaussagen auch gemeinsam Pläne für die Zukunft: Imfeld hoffte weiterhin auf eine Pfründe und wurde dabei von Rohrer unterstützt, der ihm als Bedienter folgen sollte. In ihren Gesprächen äusserten sich die beiden Männer gleichzeitig abfällig über die Kapuziner, denen sie vorwarfen, sie verleumdet zu haben – und dies, obwohl viele Ordensmänner "selbst auch nicht 'Alles' [seien]" und mehrere unter ihnen uneheliche Kinder gezeugt hätten.

Nach der Anzeige durch Rohrers Schwester fanden sich Rohrer und Imfeld dann also im Januar 1864 erneut im Verhörsaal wieder – allerdings unter sehr verschiedenen Umständen. Während Rohrer auf dem Rathaus gefangen war, gestattete man Imfeld eine beheizte Zelle im Spital; während Imfeld einen bischöflichen Vertreter als Beistand erhielt, wurde Rohrer während seiner Verhöre mit Rutenschlägen gefoltert. Nach unzähligen Verhören gestand Rohrer schliesslich nicht nur die sexuelle Beziehung mit Imfeld, sondern nannte noch fünf weitere Männer, mit denen er in Obwalden und während seiner Zeit als Söldner in Neapel sexuellen Umgang gehabt hatte. Bevor das Verfahren abgeschlossen war, erlitt Rohrer einen psychischen Zusammenbruch und wurde in die "Irrenzelle" im Spital gebracht, wo er noch im gleichen Jahr verstarb.

Der ehemalige Pfarrer Imfeld hingegen beschäftigte den Regierungsrat noch länger. Der Versuch, ihn an eine kirchliche Institution im Elsass abzuschieben, scheiterte; einer Überführung nach Chur, wo sich Imfeld vor den kirchlichen Behörden verantworten sollte, entzog er sich durch Flucht. 1865 wurde Imfeld in Basel aufgegriffen, wo er angab, protestantischer Pfarrer werden zu wollen, und sich erfolglos gegen eine Auslieferung nach Obwalden wehrte (SUA.02.01.1596). 1866 wurde Imfeld, der sich nun wieder im Sarner Spital aufhielt, schliesslich die Ausreise nach Amerika gestattet. Das kirchliche Entlassungsschreiben sei so "so schonend als möglich" formuliert worden, heisst es im Regierungsratsprotokoll (RRP.0016, 01.06.1866, S. 65).

Die Geschichte von Rohrer und Imfeld ist aus verschiedenen Gründen interessant: Zunächst bietet sie einen seltenen Einblick in das Obwaldner Söldnerregiment in Neapel kurz vor seiner offiziellen Auflösung; gleichzeitig offenbart sich in der unterschiedlichen Behandlung von Imfeld und Rohrer, welch grosse Rolle der Stand des Angeklagten in der Obwaldner Strafjustiz spielte. Vor allem aber wirft die Geschichte ein Schlaglicht auf das Schicksal eines homosexuellen Paares im Obwalden des 19. Jahrhunderts, das seine Beziehung trotz aller Widerstände über mehrere Jahre aufrecht erhielt.

 

Sechstausendundeine Geschichte

Villmer, Furrer, Rohrer und Imfeld waren nur vier von mehreren tausend Personen, die zwischen 1803 und 1867 in den Obwaldner Strafuntersuchungsakten ihre Spuren hinterliessen – darunter viele Obwaldnerinnen und Obwaldner, über deren Leben wir ansonsten kaum etwas wüssten. Wer weiss, wie viele ungewöhnliche Geschichten sich noch in den Strafuntersuchungsakten verbergen?

 

Quellen:

 

Literatur:

  • von Flüe Niklaus: Restaurationszeit in Obwalden. In: Obwaldner Geschichtsblätter 22 (1998).
  • von Flüe Niklaus: Das Obwaldner Strafgerichtsverfahren im 18. Jahrhundert. In: Der Geschichtsfreund 160 (2007), S. 143-218.
  • Lischer Markus: Illegitimität. In: Historisches Lexikon der Schweiz Online, hls-dhs-dss.ch/de/articles/016112/2008-01-22/ (Stand: 19.06.2024).
  • Luminati Michele: Strafrechtsgeschichte(n) der Innerschweiz im 19.-20. Jahrhundert zwischen Rückständigkeit und Fortschritt. In: Signa ivris 5: Beiträge zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und rechtlichen Volkskunde, S. 115-140.
  • Niederberger Franz: Die Entwicklung der Gerichtsverfassung in Obwalden. In: Obwaldner Geschichtsblätter 1 (1901), S. 1-80.

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